Ulrike
Gramann: Versuch über Prolog
Rede zur Ausstellung detect –
zeichnend Welt begreifen und 15
Jahre Prolog
© Ulrike Gramann
Prolog ist eine Zeitschrift für Zeichnung und Text, die Redaktion hat diese Ausstellung „detect – zeichnend die Welt begreifen“ vorbereitet. Deshalb darf ich heute über Schreiben und Zeichnen sprechen. Also über alles, jedenfalls alles außer Musik. Aber Notenschrift ist ja auch Schrift, eine Partitur auch ein Bild. Darin könnte man sich verlieren. Doch es geht hier ums Zeichnen und Schreiben, um ihre Verbindung, die nicht nur die Verbindung zwischen zwei Fertigkeiten bezeichnet, sondern auch eine zwischen Literatur und bildender Kunst. Wie jeder Text ist auch dieser ein Versuch, persönlich: ja, politisch: vielleicht, wissenschaftlich: nein.
Ich kenne Prolog noch nicht lange, zweieinhalb Jahre ungefähr. Mein erstes Heft bekam ich aus der Hand einer Kollegin. Das Heft begegnete mir in einem Augenblick, als mir kollegiale Gespräche ganz besonders fehlten. Ich hatte genug von matten Telefonaten, genug, mich in grammatische Randfragen zu verrennen, genug von einsamen Podcasts, die ich ins Blaue adressierte. Bildende Künstlerinnen in meinem Umfeld planten Ausstellungen, die verschoben wurden, ausfielen, und bisweilen bauten sie ihre Ausstellung auf und nach Monaten wieder ab, ohne dass irgendwer sie gesehen hätte. Also meine Kollegin hatte für Prolog geschrieben, machte mich mit Prolog bekannt, und das ist deshalb erzählenswert, weil diese Art des Weiterreichens sowohl Prolog als auch mein Verhältnis dazu gut beschreibt. Das Heft lag sofort und für lange griffbereit neben dem Schreibtisch. Ich griff oft danach. Das Rosa auf dem Umschlag irritierte mich, weit mehr aber fühlte ich mich angezogen von Zeichnung und Text und der stillen Radikalität, mit der das Ding eben nicht „Zeitschrift ‒ bildende Kunst ‒ Literatur“ hieß, sondern „Heft ‒ Zeichnung ‒ Text“.
Radikal sein, tausendmal gehört, heißt an die Wurzel gehen. Die gemeinsame Wurzel beim Zeichnen und Schreiben ist die Hand. Handwurzel, Handfläche, Finger, Daumen: Ihre Bewegung bringt Linien hervor, die zu Zeichnung und Schrift werden. Historischer Rückblick: Einer ritzt eine Linie in einen am Feuer vergessenen Knochen, eine drückt ihren Fingernagel in noch weichen Ton. (detect) Guten Morgen, Subjektivität! Eben noch Menschentier, jetzt Person. Zeichnen und schreiben sind dafür elementar.
Nach dem Wort Hand denke ich gleich das Wort Handschrift. Handschrift ist die veränderliche, bewegliche, sich in Zuständen, Stimmungen, Erkenntnissen ausprägende Form, die beim Schreiben von Hand entsteht, unwillkürlich und bewusst zugleich. Zeichnen und schreiben bringen charakteristische, individuelle Formen hervor. Zeichnen und schreiben heißt nach Formen suchen, in denen wir die Welt beschreiben. Das ist ein Suchen in der Welt, nach der Welt überhaupt. Suchen setzt einen Aufbruch voraus, eine queste, eine Aventiure, Suche und Findung zugleich. Unsere Haltung dabei ist fragend, unser Standpunkt vielmehr ein Ausgangspunkt, von dem aus wir uns bewegen: woandershin, immer der Hand nach.
Ehe ich schreiben lernte, hatte ich gezeichnet, Frau, Mann, Kind, Sonne, Blume, Baum. Am Pferd scheiterte ich. Scheitern schien mir wesenhaft beim Zeichnen. Jetzt Buchstaben. Die erste Aufgabe der Lehrerin lautete, mit dem Füllhalter Ketten von Schwüngen auf die Zeilen des Hefts zu bringen. Sie sagte nicht Schwünge, sondern: „Dachziegel“, als sie erklärte, was wir tun sollten. Die monotone Bewegung gefiel mir nicht. Aber der Weg zur Schrift führte über die Dächer. Indem ich mich dessen erinnere, wobei meine Hände schreibend über eine Tastatur gleiten, schaue ich zum Haus gegenüber. Die realen Dachziegel ähneln denen aus jener Schreibübung nur entfernt. (detect) Die geschwungenen Formen zeigten keine Dachziegel, sie bedeuteten Dachziegel. Die altmodische Übung war obenhin für die Feinmotorik bestimmt, doch vor allem war sie eine Übung in Abstraktion. Die Schwünge waren Zeichen für Dachziegel.
Die augenfällige Verbindung von Zeichnen und Schreiben ist das Zeichen. Es verklammert Form und Bedeutung. Dafür muss es keinen Gegenstand und nichts Gegenständliches zeigen, es zeigt etwas, das im Bewusstsein entsteht. Anton Schwarzbach sagt: „Zeichnen ist mit dem Stift denken.“ Dazu gibt es zweite Meinungen. Eine Kollegin sagte mir, sie zeichne, ohne zu denken, schreiben ohne zu denken könne sie nicht. Deshalb, sprach sie, sei bildende Kunst etwas ganz anderes als Literatur. Aber das Auge, sage ich, ich sehe doch, wie sie, die Kollegin, eine Linie aufs Papier schreibt. Zweite Meinung: Nie würde sie das so sagen.
Es stimmt: Literatur ist das Geschriebene, das Gedachte auch. Aber Literatur und bildende Kunst verhalten sich zueinander trotzdem nicht wie Theorie und Praxis. Auch einigermaßen spezialisiert bleiben wir verbunden. Was am Ende meines Schreibprozesses stehenbleibt, hat oft vor allem meine Hand hervorgebracht, ob nun zu Fuß oder mit dem Fortbewegungsmittel Tastatur. Die Finger auf der Tastatur sind Teil einer Praxis, Monitor und Festplatte sind Teil der Welt. Wenn ich schreibe, bleibt das endlich Begriffene stehen. Kein Zufall: Der Begriff ist eine Metapher voller Körperlichkeit. Mit Grund sprechen wir hier von Bildsprache, dort von Sprachbildern, hier wie dort vom sprachlichen und zeichnerischen Gestus. Wir üben uns hindurch, voran, hinweg und manchmal auch hinauf. Wenn der Stein rollt, üben wir uns wieder hinunter, wir üben uns hinterdrein, im Idealfall, um ihn zu überholen und unten zu erwarten. Wir üben, das Überholen zu üben und einen Blick auf das zu werfen, was die Welt hinunterrollt.
Zeichnen und Schreiben schließen sehr viel Üben ein. Vorläufiges, Vergängliches, auf eine Version folgt immer noch eine oder kann eine folgen. Zeichnungen, Gedichte, Prosatexte werden nicht in Stein gemeißelt und nicht aus dem Marmor geschält, sie erscheinen auf Papier. Das hat etwas Fließendes. (in der Ausstellung: Anke Becker, Wallpiece Blue Yonder) In einem älteren Prologheft fand ich das fotografierte Fragment einer Zeichnung: Linien auf Papier, Büroklammer am Papier, also Bleistift, Papier, Metalldraht. (Andreas Koletzki) Diese Materialien, die von Feuchtigkeit, Wärme, Licht verändert werden, verbinden uns. Fließend vergänglich und veränderlich ist unsere Arbeit auch dann, wenn sie aus Daten besteht. Wer’s nicht glaubt, öffne die älteste Datei auf der Festplatte. In Prolog 5 fand ich eine leere Seite, Text auf der Seite gegenüber: … steht diese seite leer schweigend – bezeichne sie. Bezeichnungen sind Prozesse, Bezeichnungen sind Ergebnisse, auch vorläufige Ergebnisse. Dorit Trebeljahr sagt: „Das Bild kommt auf dich zu, beim Zeichnen entwickelst du es.“ In meinen Gesprächsnotizen finde ich den Satz: „Du fängst an zu formulieren.“ Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat, aber es trifft das, was ich jeden Tag tue: gewohnheitsmäßig, manisch.
Prolog ist ein schönes Arbeitsheft. Vor allem bildende Künstlerinnen unter meinen Freundinnen und Kolleginnen sind berückt von seiner Schönheit. Ich vermute, das liegt daran, dass in den Arbeiten das Arbeiten erkennbar ist, man meint es greifen zu können. Da ist viel Vorläufiges, vieles, das offen ist, unabgeschlossen, aus dem noch viel werden kann, da ist etwas, das schon für sich steht, obwohl es noch im Fluss ist. Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass in Prolog keine Rangfolgen aufgebaut werden, keine Hierarchien walten, keine Eliten sich gegenseitig ihrer Bedeutsamkeit versichern. Oja, Hierarchien sind interessant, nämlich als Objekt zeichnenden und schreibenden Nachdenkens. Als ordnendes Subjekt in einer Zeitschrift würden Hierarchien nur helfen, wäre man auf Professionalität, Prominenz, Hochglanz aus. Stattdessen sucht die Redaktion ausdrücklich Arbeits- und Zwischenzustände, also genau diejenigen Arbeiten, die bei zunehmender Perfektionierung unter strengem Verschluss bleiben.
Wie machen es die anderen, wo stehen die anderen? Was geht mich das an, das erkennbar Persönliche, das nebenbei und beiseite Gesagte? Warum erregt gerade das meine Aufmerksamkeit, meine Lust? Das nehme ich persönlich. In der stark digitalisierten Form der Textproduktion werden Zwischenzustände ja sofort überschrieben oder entstehen gar nicht mehr. Was ich ins Notizbuch schreibe, zeige ich mir kaum selbst, geschweige denn anderen. Ich kann mich nicht erinnern, vor meiner Bekanntschaft mit Prolog einen Zwischenzustand irgendwo abgegeben zu haben. Dabei ist eine Verbindung von bildender Kunst und Literatur die fortlaufende Bewegung, in der sie entstehen, die Einübung in die Gedanken, die Momentaufnahme, die Bildbeschreibung, das bekritzelte Papier. Was könnte an einer Büroklammer erzählerisch sein? (Entdecken Sie es.)
In einem der älteren Prologhefte las ich, es sei ein Verdienst von Prolog, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Das klingt verheißungsvoll. Nur bin ich nicht auf Verheißung aus, sondern auf Kontakt. Was ist denn das Unsichtbare? Eine Offenbarung, die der Eingeweihte erkennt, eine Aura, die die Kundige liest, das Menetekel auf der Wand, das ein Prophet entziffert? Muss, wie eben beschrieben, nicht überhaupt zuerst das Sichtbare sichtbar gemacht werden, nämlich dasjenige Sichtbare, das bloß niemand ansieht? Zu sehen ist vieles, aber Prolog geht es darum, auch das zu sehen, was nicht brüllt, nicht mit Farben knallt, nicht die Türen scharfer Worte aufreißt und zuschlägt. Das ist offensichtlich.
Im Heft „nacht/schatten“, das ist ein Beispiel, sah ich Zeichnungen von Sofateilen, die ineinander, übereinandergestapelt, verrutscht, auseinandergerutscht waren. (Andreas Becker) Es war, dekonstruiert, das, was die Werbung „Sofalandschaft“ nennt; die Zeichnung gab dem leeren Begriff Sinn. Das war 2021. Wann hatte ich mich je für Sofas interessiert? Nie. Ich war viel unterwegs gewesen, hatte Leute getroffen, mit ihnen, wenn überhaupt, auf Stühlen gesessen, Kinositzen, Theaterklappsesseln. Das Sofa im Haushalt benutzten wir nur, wenn Besuch da war, der darauf schlief. Aber jetzt, wo wir jeden Tag zu zweit in der Wohnung arbeiteten, nirgendwohin fuhren, nie für uns allein blieben, wurde es zu einem Ort von Bedeutung, auf den ich nachts floh, wenn ich wach sein, lesen, schreiben, Musik hören wollte, ohne den leichten Schlaf des anderen zu stören. (detect) Die gezeichneten Sofateile zeigten einen gesellschaftlichen Zustand, sie waren ein eigener Beitrag zu Arbeits- und Lebensbedingungen an einem bestimmten Zeitpunkt. Für mich waren sie ein Zeichen.
Ein Zeichen ist Verbindung an sich, es stellt eine Verbindung her zwischen der Person, die das Zeichen gibt, und der, die es wahrnimmt. Es ist weniger als ein Bild und mehr als ein Bild zugleich. Die Dachziegelschwünge erinnerten mich vage an den Gegenstand, aber stark daran, dass ich bald schreiben würde. Wie beim Zeichnen ging es mir dabei nicht nur um den Gedanken, den ich dringlich zu Papier bringen wollte, sondern auch um die Form.
Eine Zeitschrift existiert durch das Lesen des Lesers, durch das Hinschauen der Betrachterin. Illustration gibt es keine in Prolog, sehr wohl aber Bezüge zwischen den Arbeiten, und es gelingt der Redaktion auf eine mir unbekannte Weise, diese Bezüge zwischen Arbeiten zu erkennen und geschickt sichtbar zu machen. Dorit Trebeljahr erklärt zum Auswahlprinzip „was einen Anker wirft“. Er erreicht mich, ich finde einen Bezug zu dem, womit ich mich befasse, was ich schreibe, woran ich leide, woran ich arbeite. Ich hätte es zuvor nicht so formuliert, aber das ist, was ich von einer Zeitschrift erwarte, in der bildende Kunst und Literatur zusammenkommen, Zeichnung und Text: Zeichen von anderen, die sich an ihren Schreibtischen und in ihren Ateliers auch irgendwie voranarbeiten. Und wenn das neue Heft erscheint, finden Anton Schwarzbach und Dorit Trebeljahr Wege, uns zusammenzubringen, in Veranstaltungen, Ausstellungen oder einfach in einem Hinterhof, an einem Feuerkorb. Den Blick von der eigenen Arbeit heben, darüber hinausschauen. Prolog ist weniger Gewissheit, mehr Ausgesetztsein, weniger Alleinblieben, mehr Kontaktaufnahme.
Und ja, das
Heft könnte auch „Dialog“ heißen, doch zum Glück heißt es
„Prolog“. Prolog, das bedeutet: Es geht weiter, und da kommt noch
was.
Ulrike Gramann
ist freie Lektorin und
Autorin.
Simone
Jung: Das Unsichtbare sichtbar machen
© Simone Jung, erschienen in:
10 Jahre Prolog - Heft für Zeichnung und Text, 2017